Polydaktylie bei der Maine Coon - worüber reden wir hier eigentlich:
Es gibt über 200 verschiedene Arten der Polydakylie bei vierfüssigen Wirbeltieren. Polydaktylie ist eine Mehrzehigkeit/Vielfingrigkeit, die bei Menschen aber auch Hunden, Katzen und z.B. Mäusen auftritt.
Einige davon bringen tatsächlich gesundheitliche Probleme mit sich, z.B. ist homozygote Polydakylie beim Meerschweinchen in der Regel tötlich. Andere sind sogenannte Syndrome, d.h. sie können auch an anderen Stellen als an der Extremität zu Schäden führen, weil ein bestimmtes Gen mutiert, das sowohl an der Hand als auch an anderer Stelle im Organismus benötigt (exprimiert) wird.
Die Polydaktylie bei der Maine Coon Katze ist in der Regel eine präaxiale (eine daumenseitige) Polydaktylie. D.h. die zusätzlich entstehenden Zehen bilden sich auf der Seite des Daumens aus - nie auf der anderen Seite der Pfote oder mitten zwischen den anderen Zehen. Diese Form der Polydaktylie wird auch Hw-Mutation nach dem amerikanischen Schriftsteller Ernst Hemingway genannt, der in seinem Haus in Key West, Florida, eine Population von mehr als 60 Katzen hielt, darunter ca. die Hälfte polydaktyle Tiere. Die Population wird bis heute aufrechterhalten.
Die präaxiale Polydaktylie der Katze ist seit mehr als hundert Jahren bekannt, sie ist autosomal dominant, d.h. sie vererbt sich unabhängig vom Geschlecht des polydaktylen Elternteils. Den exakten genetischen Locus hat ein Team um die Genetikerin Laura A. Lettice am Institut Medical and Development Genetics am Western Generals Hospital in Edinburgh seit 2003 in mehreren Publikationen beschrieben (Lettice et al. 2003, 2007, 2008, 2012). Die präaxiale Polydaktylie kommt neben der Katze auch bei der Maus und beim Menschen vor.
Die phänotypische Ausprägung der polydaktylen Maine Coon:
Bei der präaxialen Polydaktylie der Maine Coon kann mit ein und der selben Mutation in der DNA die Anzahl der Zehen sehr unterschiedlich sein. Die polydaktyle Maine Coon kann zwischen 18 und 26 Zehen an allen Pfoten zusammen aufweisen (nie mehr als 8 Zehen pro Pfote). In der überwiegenden Zahl ist die Ausbildung der Zehen vorne und hinten jeweils symmetrisch. Hierzu gibt es zahlreichte Röntgenaufnahmen polydaktyler Maine Coons, insbesondere auch aus der veterinärmedizinischen Dissertation von Alexia Hamelin , Paris 2011. Auf diesen Bildern sind überwiegend zusätzliche Zehen zu erkennen, die funktionstüchtig aussehen. In sehr seltenen Fällen kann es zu doppelten Krallen an einem Zeh kommen. Daneben gibt es auf den Röntgenaufnahmen auch seltene Beispiele von freiliegenden, nicht mit dem Skelett verbundenen Knochenteilen eines nicht vollständig ausgebildeten Zehs. Ein solcher ist aber mit dem Muskel-, Nerven- und Blutsystem verbunden, so dass er im Zusammenspiel der Pfote ebenfalls funktioniert. Hier ist anzumerken, dass die Katze nicht jeden Zeh einzeln als Organ nutzt sondern viel eher die Pfote insgesamt als Instrument. Das Vorkommen eines solchen nicht mit dem Skelett verbundenen Zehs ist für den Katzenbesitzer äusserlich nicht oder nur schwer feststellbar, da es zu keiner wahrnehmbaren Beeinträchtigung kommt.
Das Verhalten und die natürliche Überlebensfähigkeit der polydaktylen Maine Coon
Die polydaktyle Katze kam wahrscheinlich auf dem Weg über Handelsschiffe im 18. Jh. von Europa in die USA, in den Staat Maine. Katzen verließen die Schiffe und wilderten in den USA aus. Da in Maine, im Nordosten der USA, sehr rauhe Klimabedingungen vorherrschen, ist eine Tierart mit einer dominant vererbbaren Mutation, die sich bei jedem betroffenen Tier tatsächlich körperlich ausprägt (hohe Expressivität) gut danach zu beurteilen ob sie den Widrigkeiten der natürlichen Selektion (Darwin) standhalten kann. Es ist darüber geschrieben worden, dass polydaktyle Maine Coon mit ihren vergrößerten Pfoten besser auf Schnee laufen und auch besser klettern können. Das ist allerdings nicht ausreichend untersucht worden.
Umgekehrt kann eine Tierart, die auch nur eine geringe körperliche Beeinträchtigung aufweist, eine geringere Fortpflanzungsfähigkeit besitzen. Es genügt dabei eine geringere Fortpflanzungsfähigkeit von ein paar Prozent um eine Art innerhalb von 200 Jahren deutlich zu verkleinern. Dies ist jedoch offensichtlich nicht geschehen. Es gibt übereinstimmende Aussagen, dass die Populationsdichte der polydaktylen Maine Coon im Nordosten der USA in der Mitte des 20. JH bei ca. 40% lag, was in etwa dem Vererbungsgrad entsprechen würde, mit der sich Polydaktylie vererbt, wenn ein Elternteil polydaktyl ist. Polydaktylie konnte sich demzufolge in halbwilder Umgebung auf amerikanischen Farmen in den vergangenen 200 Jahren in vollem Umfang aufrechterhalten. Das spricht dafür, dass es keine Fitness-Nachteile für polydatyle Katzen gibt und sie sich in der Natur uneingeschränkt fortpflanzen und erhalten können.
Beobachtet man polydaktyle Katzen, so stellt man häufig fest, dass sie den verlängerten, dreigelenkigen Daumen, der bei der Hw-Mutation immer vorliegen, in menschlicher Art und Weise nutzen. D.h. wenn sie ein Stückchen Trockenfutter oder Spielzeug mit der Pfote festhalten wollen, schliessen sie mit dem Daumen eine Faust statt die Pfote an das Unterbein zu drücken um etwas fest zuhalten.
Bedeutende ausgewählte Studien zur phänotypischen Ausprägung der Polydaktylie:
1. Danforth Studie 1947
Die Studie behandelt die Morphologie (Form, Gestalt) der überzähligen Zehen und bestätigt deren Funktionstüchtigkeit. Bereits 1947 zeigte Danforth im Detail wie die polydaktyle Maine Coon Katze Muskulatur, Sehnen und Nerven für die zusätzlichen Zehen neu anlegt.
2. Hamelin Dissertation 2011
Hamelin ist eine Veterinärmedizinerin und hat mehr als 100 polydaktyle Maine Coons untersucht. Auf Seite 46 ihrer Dissertation schreibt sie:
"Die funktionellen Kapazitäten und die sensorischen Reaktionen waren vergleichbar mit denen anderer Zehen. Jeder zusätzliche Zeh besitzt eine vollständige Anatomie."
Weiterhin hat Hamelin empirisch die Todesrate polydaktyler Katzen im Vergleich zu nicht polydaktylen Katzen untersucht. Sie kommt bei der Analyse von 83 Katzen zum Ergebnis, dass es keinen statistisch signifikaten Unterschied gibt (S.149)
Hamelin kommt abschließend zu dem Urteil, dass die Faktoren Reproduktionsrate, Gesundheit und Körpergröße polydaktyler Katzen keine Unterschiede aufweisen mit nicht polydaktylen Katzen (S.155).
3. A. Lettice 2003, 2007, 2008, 2012 am Institut Medical and Development Genetics am Western Generals Hospital in Edinburgh
Bei der präaxialen Polydaktylie der Maine Coon liegt keine Mutation eines Gens vor, sondern vielmehr eine Punktmutation an einem Steuerungselement für das Gen Sonic Hedgehog, welches eine zentrale Bedeutung für die Bildung der Hand bzw. des Fußes und für weitere Organe hat. Und zwar beim Menschen und bei allen Vierfüßern. Es ist also wichtig zu betonen, dass kein direkter Gendefekt vorliegt, wie das so oft behauptet wird, sondern eine Veränderung in einem DNA-Bereich, der die Ausbildung eines Gens im Detail steuert. Dieser Steuerungsteil heißt ZRS.
4. Lange, Nemschkal, Müller 2014:
Bei dieser Studie konnte erstmals nachgewiesen werden, dass die Häufigkeit der polydaktylen Zehen einer statistischen Regelmäßigkeit folgen. Trotz der immer gleichen Punktmutation kommt es zu einer gerichteten Häufigkeit von Zehenzahlen, mit dem Schwerpunkt bei 20 Zehen. Lange et al. haben erstmals alle polydaktylen Zehenausprägungen der Maine Coon (Hw-Mutant) exakt beschrieben und ein Modell erstellt, wie aus einer einzigen Punktmutation ("kleine Ursache") eine phänotypisch so komplexe Variation wie ein Zeh ("große Wirkung") entstehen kann, nämlich durch das integrierte Zusammenspiel hunderter oder tausender Einflussfaktoren verschiedener Gene, Zelltypen und Entwicklungsmechanismen.
Hier stellt sich die Frage: Kann dieses Steuerungsteil ZRS mit seinem Einfluss auf das Zielgen Sonic Hedghog auch andere Teile des Körpers beeinflussen?
Es gibt seit 2003 zahlreiche Publikationen zum Steuerungsteil ZRS, die Autoren äußern sich alle dahingehend, dass ZRS ein Steuerungselement ist, das speziell für die Form der Hand bzw. des Fußes verantwortlich ist. Ein Einfluss der bei präaxialer Polydaktylie vorliegenden Punktmutation auf andere Körperregionen ist nach dieser Darstellung höchst unwahrscheinlich, wenn nicht sogar unmöglich. Diese Einschätzung wird dadurch bestätigt, dass in einem wissenschaftlichen Versuch (Sagai et al. 2005) das Steuerungselement ZRS in einer befruchteten Eizelle aus der DNA komplett entfernt wurde. Danach wurden Finger und Zehen gar nicht mehr, bzw. nicht mehr richtig ausgebildet, während an anderen Stellen des Körpers keine Begleiterscheinungen festgestellt wurden. Im Juli 2012 hat Herr Lange bei der Genetikerin Lettice schriftlich angefragt, ob aus Ihrer Sicht ZRS andere Auswirkungen als auf die Extremitäten ausüben kann. Sie hat das verneint.
Durch die aktuellen Studien (Lettice, Hamelin) wurde klar, dass der Semiletalfehler, der im Heimtiergutachten v. 1998 erwähnt wird, nicht bestätigt werden konnte. Als Quelle bezieht sich das Heimtiergutachten u.a. auf Band 1 des Horzinek "Krankheiten der Katze" von 1992. In der 4. Auflage des Horzinek wird der Semiletalfehler nicht mehr im Zusammenhang mit Polydaktylie bei der Katze erwähnt.
Zuchtziele, die in jeder Zucht mit Tieren eingehalten werden sollten:
Zuchtziele sollten gesundheitsorientiert sein ("Vitalitätstest"). Dazu wird z.B. vom Heimtiergutachten zum Tierschutzgesetz empfohlen folgende Merkmale züchterisch zu berücksichtigen:
-> Fruchtbarkeit
-> Normaler Geburtsverlauf
-> Geringe Nachkommenverluste
-> Krankheitsresistenz
-> Lebensdauer
Betrachtet man diese Punkte, so kann man feststellen, dass die polydaktyle Maine Coon die selben Werte erreicht wie die "normalfüssige" Maine Coon. Hierzu gibt es in Deutschland aber auch Europa und den USA umfangreiche züchterische Erfahrungen. Um diese Erfahrungswerte statistisch auswerten zu können, wurde in den USA die Datenbank Polytrack eingerichtet. In dieser Datenbank gibt es mittlerweile über 2.200 Einträge zu polydaktylen Katzen. All diese Einträge wurden intensiv wissenschaftlich analysiert und ausgewertet. Es gibt keine Berichte über morphologische und physiologische Beeinträchtigungen der Tiere. (Publikation Springer, USA 2014). Die polydaktyle Maine Coon besitzt keine schlechtere Fruchtbarkeit, hat keine Probleme im Geburtsverlauf, nicht mehr Nachkommensverluste als Non-Poly Maine Coons und ist nicht kränker oder stirbt früher. D.h. die Zuchtziele werden bei Poly und Non-Poly-Maine Coons im selben Maße erreicht.
Da die polydaktyle Maine Coon keinerlei Nachteile gegenüber non-poly Maine Coons hat, weder gesundheitlicher noch funktioneller Art, betrachte ich die polydaktyle Maine Coon als eine harmlose Variante der Maine Coon, in keinem Fall aber als Qualzucht. Wie immer, wenn ein Lebewesen im Aussehen anders ist als andere Lebewesen der gleichen Art, wird es Liebhaber und Gegner dieser Merkmalsausprägung geben. Für mich sind polydaktyle Maine Coons zauberhaft! Ich liebe ihre dicken Pfoten, die Geschicklichkeit, mit der Sie ein Spielzeug händeln und wundere mich immer wieder darüber, dass unser kastrierter Kater mit seinen 8,5,kg wie ein barfuss laufendes Kind klingt, wenn er die Holztreppe runterkommt.
Den Gegnern dieser Tiere möchte ich raten, sie sich einmal persönlich anzusehen, ehe sie sie verurteilen oder sich darüber auslassen, dass es sich um eine gesundheitlich bedenkliche Missbildung handelt, mit der raffgierige Züchter Geld schinden wollen indem sie eine Missbildung als etwas besonderes verkaufen.
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